Das virtuelle Arbeiten hat Auswirkungen auf den globalen Arbeitsmarkt. Coface hat in ihrer jüngsten Studie analysiert, dass sich für Industrienationen Einsparungspotenziale und für Schwellenländer Wachstumspotenziale ergeben. Bis zu 40 Prozent der Arbeitnehmer in der EU haben während des ersten Lockdowns im vergangenen Jahr regelmäßig im Homeoffice gearbeitet. „Viele Unternehmen wurden von der Produktivität ihrer Belegschaft positiv überrascht und öffneten sich zunehmend der Idee einer teilweise globalisierten, virtuellen Belegschaft. Dieser Kulturwandel könnte manche Firmen in Industrieländern verleiten, neue und weitaus günstigere Arbeitskräfte in Schwellenländern einzustellen“, sagt Dagmar Koch, Country Managerin von Coface Österreich. Berechnungen zufolge würden deutsche Unternehmen 6 Prozent ihrer Arbeitskosten einsparen, wenn sie nur ein Viertel der telearbeitsfähigen Arbeitsplätze ins Ausland verlagerten. Noch höher ist das Einsparpotenzial in Frankreich (7 Prozent) und in UK (9 Prozent).
Die Analysten von Coface schätzen, dass die Gesamtzahl der remotefähigen Arbeitsplätze in Volkswirtschaften mit hohem Einkommen etwa 160 Millionen beträgt, während die Zahl der potenziellen Telearbeiter in Volkswirtschaften mit niedrigem und mittlerem Einkommen bei etwa 330 Millionen liegt. „Das bedeutet jedoch nicht, dass alle Arbeitsplätze virtuell verlagert werden können. Viele Aufgaben erfordern eine teilweise Präsenz vor Ort, persönlichen Kontakt mit Kunden oder ein gutes Verständnis der lokalen Kultur“, erläutert Koch.
Potenzielle „Hotspots“ vor allem in Südostasien
Coface hat einen Indikator entwickelt, um unter den Schwellenländern diejenigen mit den besten Voraussetzungen für virtuelles Offshoring zu identifizieren. Dieser basiert auf vier Schlüsselkriterien: die Zahl geeigneter Arbeitskräfte für Remote-Arbeit, die Wettbewerbsfähigkeit bei den Arbeitskosten, die zur Verfügung stehende digitale Infrastruktur und das Coface-Geschäftsklima, das unter anderem die Rechtssicherheit im jeweiligen Land zeigt. Südostasien könnte eine Region mit hohem Potenzial sein - vor allem Indien und Indonesien. Aber auch Brasilien hat eine große Anzahl potenzieller Telearbeiter und vergleichsweise niedrige Arbeitskosten. Polen sticht durch sein gutes Geschäftsklima in Verbindung mit einer sehr guten digitalen Infrastruktur hervor. „Ebenso sind China und Russland theoretisch ideale Ziele für virtuelles Offshoring. Wachsende geopolitische Spannungen und Cybersicherheitsprobleme mit dem Westen stellen jedoch ein großes Hindernis dar“, sagt die Coface-Managerin.
Grafik 1: Bewertung von Schwellenländern und deren Voraussetzungen für virtuelles Offshoring
Interpretationsbeispiel: China ist das Land mit der höchsten Anzahl potenzieller Tele-Migranten (Score: 100); Indiens Zahl potenzieller Tele-Migranten liegt bei 62% von der Chinas. Die Durchschnittslöhne in Indonesien betragen nur 26% (100-74) von denen in Polen, dem Land mit den höchsten Löhnen in der Länderauswahl. Rot markierte Länder schneiden bei unserem Indikator gut ab, könnten aber von Investoren aus geostrategischen Gründen und/oder Cybersicherheitsbedenken gemieden werden.
Die Schattenseiten: Abwärtsdruck und politische Polarisierung
Eine Verlagerung der Arbeit in dieser Größenordnung könnte destabilisierende gesellschaftliche Auswirkungen in den betroffenen Industrieländern haben. Es gibt einen gut dokumentierten Zusammenhang zwischen der De-Industrialisierung und dem Aufstieg von Anti-Establishment-Politikern, der in den westlichen Demokratien im letzten Jahrzehnt beobachtet wurde. Dabei führte das physische Offshoring in der Fertigung zu einer Einkommensstagnation bei weniger qualifizierten Arbeitnehmern, was sie in der Folge für eine Anti-Globalisierungsrhetorik empfänglich machte. Bei der virtuellen Verlagerung von Arbeitsplätzen besteht die Gefahr, dass sich ein ähnliches Muster bei hochqualifizierten Fachkräften abzeichnet. In der Folge würden die Risiken für eine politische Polarisierung und sozialen Unruhe steigen.